Peter Kowald Gesellschaft/ort e.V.

ort_Luisenstraße 116_42103 Wuppertal

JAZZPODIUM-Special!


Wie der Jazz die Mauer überwand_Peter Kowald und die DDR-Connection
von Heiner Bontrup_in der aktuellen Ausgabe des JAZZPODIUM

Der Kalte Krieg war noch spürbar, das politische Tauwetter hatte gerade erst eingesetzt, da begann im Herbst 1972 – heimlich, aber nicht still und leise - eine deutsch-deutsche Jazz-Geschichte: der Beginn einer wunderbaren Freundschaft und der Anfang einer neuen Musik in der alten DDR.


Der Trommler und Urahn des DDR Free-Jazz Günter „Baby“ Sommer erinnert sich: „Ich habe die beiden Peter des Wuppertaler Free Jazz, Kowald und Brötzmann, 1972 in Berlin kennen gelernt. Das war bei einer Gelegenheit, als eine Handvoll Musiker aus der ehemaligen DDR in der &Mac226;Großen Melodie’, einer Nachtbar des alten Friedrichstadt-Palastes in Ostberlin zu einer Jamsession zusammengekommen waren.“ Es sollte eine Initialzündung für die eigenständige Entwicklung der Improvisierten Musik in der DDR werden. „Durch die Begegnungen mit Kowald, Brötzmann, Alexander von Schlippenbach, Evan Parker, Paul Rutherford, Irène Schweizer und Paul Lovens merkten wir plötzlich: Es gibt ja noch eine ganz andere Spielart. Das interessierte uns, weil wir die Personen zu sehen, zu hören, zu fassen bekamen, während die amerikanischen Idole zu weit weg von uns waren, als dass sie auf uns bewusstseinsbildend hätten wirken können. Der persönliche Kontakt mit westdeutschen und westeuropäischen Musikern, die ihre Emanzipationsbestrebungen klar formulieren konnten, war ein entscheidender Impuls; das hat auf uns übergegriffen.“

Auch Jost Gebers, Mitbegründer des (West-) Berliner Musiklabels Free Music Production (FMP) erinnert sich an die legendären Montagabende in der „Großen Melodie“ im Ost-Berliner Friedrichstadtpalast, an denen die Jazzmusiker „Narrenfreiheit“ hatten: „Unsere Veranstaltungen hörten immer am Sonntag auf, also haben wir gesagt: &Mac226;Hängt noch einen Tag dran, wir bezahlen das Hotel, und kommt mal mit einem Tagesvisum mit rüber, Horn unterm Arm, und wir treffen uns da. Wer konnte, blieb einfach noch da, und dann setzte sich die Karawane mit der S-Bahn in Richtung Friedrichstraße in Bewegung. Es war doch ein ziemlich abgeschottetes Ding, was da in der DDR passierte. Und die haben praktisch im Schnelldurchlauf das umgesetzt, was sie plötzlich in der direkten Konfrontation erlebten, jeder für sich.“

Jazz made in DDR, das war lange Zeit (wie auch in der Bundesrepublik) nichts weiter als ein Kopieren der amerikanischen Vorbilder. Dabei wechselt die Einstellung der DDR-Kulturpolitik ständig. Günter Sommer: „Die Betätigung der Jazz-Musiker in der DDR war stets abhängig von der politischen Großwetterlage, je nachdem, was in Moskau oder Washington passierte. Wir mit unserer innerdeutschen Grenze waren ja an der Schnittstelle zwischen Ost und West. Wenn es Probleme gab, wurde alles, was nach Imperialismus aussah, verboten. Selbst ein Konzert von Louis Armstrong in der Westberliner Deutschlandhalle wurde zum Politikum. &Mac226;Mit der Jazztrompete den Osten erobern’ gab der damalige Stadtkommandant des amerikanischen Sektors Berlins als Parole aus. Das war natürlich eine imperialistische Kriegserklärung und alles, was mit Jazz-Musik zu tun hatte, wurde verboten. Andererseits: Bei der Ermordung von Martin Luther King wurde der Jazz uminterpretiert als Musik der Farbigen, als Musik eines unterdrückten Proletariats, und plötzlich war die Jazz-Musik die Musik unserer verbündeten amerikanischen proletarischen Kämpfer. So ging es immer sinuskurvenmäßig in den Keller oder hoch mit dem Jazz in der DDR.“

Noch also orientierte sich der DDR-Jazz weitgehend an amerikanischen Vorbildern. Allerdings befand sich zu jener Zeit die Jazz-Szene in der DDR bereits in einem Umbruchprozess, der zum freien Spiel führte und der sich intuitiv jenen musikalischen Vorstellungen annäherte, die Musiker wie Peter Kowald und Peter Brötzmann, Alexander von Schlippenbach und andere entwickelt hatten. Am Ende dieses Prozesses stand jedoch ein anderes Ergebnis als die Kaputtspielweise des frühen westdeutschen Free Jazz. Günter „Baby“ Sommer: „Wir merkten plötzlich, dass wir Kultur-Diebe sind, dass wir Früchte von einem Baum stahlen, den wir nie gegossen hatten. Wir verstanden plötzlich: Wir kopieren die amerikanische Musik, sind aber nicht in dem sozialen Umfeld groß geworden, stehen nicht in dieser kulturellen Tradition. Uns kam ins Bewusstsein, dass wir in der eigenen Geschichte nachschauen müssen, um zu uns selbst zu kommen. Das hat dazu geführt, dass wir thüringisch-sächsisches Liedgut fanden, preußische Märsche. So stießen wir zwar nicht wie die Amerikaner auf afrikanische Wurzeln, aber wir gingen doch bis ins Mittelalter zurück und haben dort Liedgut entdeckt, das wir für unsere Musik nutzen konnten. Das war unser Blues, unsere Art von Blues. Und deshalb klingt unser ostdeutscher Free-Jazz anders als der der westdeutschen Kollegen.“

Trotz dieser eigenständigen Entwicklung waren es zunächst vor allem die persönlichen Beziehungen zwischen den Wuppertaler Musikern und den Protagonisten des DDR-Jazz, die zu entscheidenden Impulsen für die eigenständige Entwicklung der Improvisierten Musik in der DDR wurden. Für Günter „Baby“ Sommer war es vor allem der Respekt Peter Kowalds vor der ganz anderen Lebenswelt der DDR, die ihn zum Nach- und Umdenken - auch in musikalischer Perspektive – brachte. „Peter Kowald erkannte in bestimmten Bereichen des östlichen Lebens eine Qualität, die wir hier so gar nicht sehen konnten. Es ist ja das alte Problem, dass man bestimmte Dinge, mit denen man so scheinbar selbstverständlich lebt, gar nicht zu schätzen weiß. Für mich war es so: Wir, die wir vom Osten auf die bunte Welt des Westens schauten, merkten gar nicht, was an den Grautönen bei uns eigentlich interessant sein könnte. Und da war Peter Kowald einer derjenigen, der mir die Augen geöffnet hat. Diese persönliche Beziehung führte natürlich auch zu der Frage, wie wir miteinander spielen könnten.“

„Diesem Statement Günter Sommers kommt essentielle Bedeutung zu, betrachtet man rückblickend die Beziehungen zwischen Wuppertaler Jazzmusikerin und denen in der DDR“, schreibt Bert Noglik in dem von E. Dieter Fränzel herausgegebenen Buch „Sounds like whoopataal“. Primär ging es nicht um den kulturellen Austausch zwischen Staaten, Regionen oder jazzmusikalischen Zentren, sondern um den von Personen. Alles, was sich entwickelte, basierte auf diesen persönlichen Beziehungen, freilich eingebettet in ein hochkomplexes Geflecht politischer und musikalischer Rahmenbedingungen. Und insofern wäre das Zitat von Günter Sommer um viele weitere Facetten anzureichern. „Es gab eine große menschliche Nähe zwischen uns“, resümiert Günter Sommer sein Verhältnis zu Peter Kowald. „Wir waren auch nah beieinander, wenn es um die Bewertung von gesellschaftlichen Verhältnissen ging, um die Frage des menschlichen Miteinanders, von Eigentum, bei der Bewertung sozialer Intelligenz. Wir waren einig in dem Gefühl, dass es eine Pflicht ist, den Schwächeren zu unterstützen. Wir waren uns einig: Nicht im Haben zeigt sich der Wert einer Person, sondern im Sein, in dem, wie man das Leben bewertet und was man gibt.“

Diese dezidiert nichthierarchische und offene Denkweise hatte auch Auswirkungen auf die Spielweise der Improvisierten Musik, in der nicht einer allein die Richtung der musikalischen Spielweise vorgibt, sondern die Entwicklung der musikalischen Idee im Augenblick des Spiels kollektiv entwickelt wird. Zu einer vergleichbaren Einschätzung kommt auch Rolf Reichelt in einer Dokumentation zu der vom Plattenlabel Free Music Production (FMP) herausgebenen Konzertreihe im August 1979 (Snapshot – Jazz Now/ Jazz aus der DDR, 1980): „Die Zeit von Ende 1972 bis 1973 kann als die entscheidende Umbruchphase der Entwicklung des Free Jazz in der DDR angesehen werden. In dieser Zeit war die Nachtbar &Mac226;Melodie’ im Berliner Friedrichstadt-Palast zum wesentlichen Live-Labor für die Entwicklung der improvisierten Musik geworden. An jedem Montagabend, dem eigentlichen Schließtag der Bar, gab es dort öffentliche Sessions, die den definitiven Beginn konsequent freier Spontanimprovisation bedeuteten.“

Überhaupt kam der in Berlin (West) ansässigen Free Music Production (FMP) und deren Initiativen in diesem Prozess besondere Bedeutung zu, urteilt Bert Noglik in „Sounds like whoopataal“. Als „essentiellen Katalysator“ beschreibt Rolf Reichelt „die damals einsetzenden Begegnungen mit wesentlichen Vertretern der westeuropäischen Avantgarde: mit Alexander von Schlippenbach, Peter Kowald, Paul Rutherford, Peter Brötzmann, Günter Christmann, Detlef Schönenberg, Iréne Schweizer, Paul Lovens oder Rüdiger Carl. Auf Anregung von FMP-Gründer Jost Gebers kamen diese und andere Musiker als Tagestouristen aus West-Berlin, mit oder ohne Instrument, und stiegen bei den Sessions in der &Mac226;Melodie’ ein.“ So entstanden im zugleich realen und ideellen Raum zwischen der (Wuppertaler) Luisenstraße und der (Ostberliner) Friedrichstraße eine deutsch-deutsche und zugleich internationale Jazzwelt. „Music is an open sky“, dieses schöne Wort Kowalds über Musik sollte hier seine ganz eigene Bedeutung entfalten: Musik überwindet Mauern und öffnet Horizonte.

Natürlich mussten die deutsch-deutschen „Grenzüberschreitungen“ in Sachen Jazz auch zu skurrilen Verrenkungen Anlass geben. So gehörte es zu den von der DDR-Kulturpolitik vorgegebenen Spielregeln, dass es keine deutsch-deutschen Gruppen geben durfte, weil diese wie eine symbolische Vereinigung hätte wirken können. Durch Einbeziehung eines Musikers oder einer Musikerin aus einem anderen europäischen Land konnte man das jeweilige Ensemble hingegen als einen internationalen Workshop deklarieren. In Veranstalterkreisen sprach man damals auch von einem „Alibi-Ausländer“. Jazzorganisator Ulli Blobel erinnert sich: „Wir haben dann auch Tarnnamen erfunden. Beispielsweise gab es lange Zeit das Sommer-Winter-Duo. Das waren Peter Kowald und Günter Sommer.“ Zu einer Zeit, zu der Günter Sommer noch keine Chance hatte, mit offiziellem Visum von der Bundesrepublik aus ins Ausland weiterzureisen, wurde er von Peter Kowald mit dem geliehenen Pass eines ähnlich aussehenden Freundes nach Italien, ein anderes Mal in einem Kastenwagen versteckt nach der Schweiz „geschmuggelt“ und auch 1981 bei gemeinsamen Konzerreisen in Japan ist Günter Sommer als „Karl Winter“ aufgetreten. Das sollte sich erst ändern, als die DDR Avantgarde-Jazz als Einnahmequelle entdeckte. Günter Sommer: „Das war schlicht die chronische Not in der Devisenkasse der DDR. Es gab Qualitätsprodukte made in DDR, aber die gingen ins Ausland, eben wegen der Devisen. Und auch im Kulturbereich hat man alles verkauft. In einem abenteuerlichen ideologischen Umschwung hat man alles, was bis dato das Denken bestimmte, umgewertet. Die Ökonomie wurde plötzlich wichtiger als die Ideologie. Vorher basierte die Kulturpolitik der DDR auf den Bitterfelder Konferenzen, die sozialistische Kultur war klar definiert. Nun gab es aber diese Finanznöte und da wurde eben das sozialistische Kulturverständnis den ökonomischen Notwendigkeiten angepasst. Man interpretierte den Jazz um als eine Musik des fortschrittlichen Proletariats. Es war schon abenteuerlich, wie man plötzlich die Jazz-Musik hoffähig und exportfähig gemacht hat. Plötzlich öffneten sich mir die Grenzen: Ich konnte nach England, Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Italien.“

Aus den Montagabenden in der „Großen Melodie“ folgten jedenfalls weitere Einladungen zur Jazzwerkstatt Peitz, später zum Jazzclub Leipzig, zu FDJ- und Studentenclubs in anderen ostdeutschen Städten. In Peitz organisierte Uli Blobel ein jährliches Open-Air-Festival, das für den Neuen Jazz eine ähnliche Bedeutung im Osten hatte, wie das Moers-Festival im Westen. Von 1973 bis 1983 war die Kleinstadt Peitz ein Mekka für den Free-Jazz in der DDR. Hier wurden Workshops abgehalten, Formationen mit Musikern aus Ost und West gebildet. Unvergessen das Bergisch-Brandenburgische Quartett (mit Ernst-Ludwig Petrowski, Rüdiger Carl, Hans Reichel und Sven Ake Johanson) wie auch das Trio Chicago-Dresden-Wuppertal (mit Leo Smith, Günter Baby Sommer und Peter Kowald). Im Gegenzug kamen Musiker aus der DDR nach Wuppertal, zu Konzerten, Workshops – Grenzüberschreitungen im Sinne des Wortes.

Erwähnenswert ist auch, dass Grenzgänger Kowald nicht nur das Interesse an der Musik, sondern auch das an den bildenden Künsten und am Tanz in den deutsch-deutschen Kulturaustausch einbrachte: Stellvertretend sei in diesem Zusammenhang auf die Zusammenarbeit Peter Kowalds mit Fine Kwiatkowski (Tanz, Körpersprache), mit Künstlern wie A.R. Penck, Helge Leiberg und Michael Freudenberg hingewiesen. Das deutsch-deutsche Trio mit Conrad Bauer, Günter Sommer und Peter Kowald entwickelte sich nach der Auflösung der DDR und bis zum Tod des Wuppertaler Bassmanns zu einer vitalen und kontinuierlichen musikalischen und menschlichen Beziehung.

Günter Baby Sommer hält seinem am 21. September 2002 in New York verstorbenen Freund Peter Kowald bis heute die Treue. Regelmäßig konzertiert er in Wuppertal, u.a. in Peter Kowalds „ORT“ in der Luisenstraße, und arbeitet dabei mit jenen Musikern, die Kowald in seinem ORT-Ensemble zusammengeführt hatte. Die deutsch-deutsche Herzkammer im Global Village des Peter Kowald schlägt noch immer.

Heiner Bontrup




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